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Verfassungsgericht kippt 5-Prozent-Hürde bei Europawahlen - Ein Pyrrhussieg der Europaskeptiker

Zum heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wegfall der 5-Prozent-Hürde bei Wahlen zum Europäischen Parlament erklärt Ulla Kalbfleisch-Kottsieper, Mitglied des Präsidiums und Sprecherin für Justiz- und Innenpolitik: "Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heutigen Urteil zur Fünf-Prozent-Hürde bei den Europawahlen in Deutschland ein weiteres Mal gezeigt, dass es für sich selbst keine wirkliche Mitverantwortung bei der Weiterentwicklung einer europäischen Verfassungskultur sieht."

"Es fühlt sich offenbar nur dem nationalstaatlichen Verfassungsverständnis verpflichtet und vernachlässigt dabei auch den im Art 23. GG verankerten Grundgedanken der gemeinschaftlichen europäischen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, zu der das „Organ“ Verfassungsgericht ja wohl auch gehört?

Es ist weniger das Urteil selbst, das die Umsetzung des „Aktes zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes" in deutsches Recht (Europa-Wahlgesetz) im Nachhinein für obsolet und die darin enthaltene Fünf–Prozent–Klausel für grundgesetzwidrig erklärt, sondern es ist die Sprache der Begründung.
 
Zu Recht rügen die beiden „Abweichler“ im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichtes, die Richter Di Fabio und Mellinghoff, dass das Gericht durch "eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungsmaßstäbe" und der Missachtung der „möglichen Funktionsbeeinträchtigung des Europaparlamentes trotz dessen gewachsener politischer Verantwortung“ negative Folgen seiner Entscheidung in Kauf nimmt. Deshalb „tragen (sie) die Entscheidung in Ergebnis und Begründung nicht mit."

Es grenzt an höchstrichterliche „Arroganz“, wenn der Zweite Senat in seiner Entscheidung, die 5:2 getroffen worden ist, ausführt, dass das EU–Parlament ja keine Regierung wähle, die auf andauernde Unterstützung angewiesen sei, und dass darüber hinaus die EU–Gesetzgebung nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament mit einer stabilen Koalition abhängig sei. Es sei auch nicht zu erkennen, dass „die Arbeit des Parlamentes durch den Einzug weiterer Kleinparteien“ unverhältnismäßig erschwert werde. Das Gericht hat davon abgesehen, die Wahl zum EP in Deutschland rückwirkend für nichtig zu erklären, sonst hätten in der Tat auch noch einige Abgeordnete ihr Mandat wieder abgeben müssen, die FDP allerdings wäre – trotz aktuellen „Wählerschwunds“ wohl doch noch vertreten.

Unabhängig von der Frage, ob die Entscheidung über Wahlrechtsfragen zum Europäischen Parlament letztlich nicht besser beim Europäischen Gerichtshof  aufgehoben wäre, stellt sich wie so häufig bei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auch die Frage, wie denn eine „grundgesetzverträgliche“ europäisch relevante Lösung aussehen könnte?
 
Letztlich geht es auch hier – wie in den jüngsten Wirren der Fragen zur „Finanzverfassung der EU“ um eine Entscheidung zu „mehr Europa“. Rund die Hälfte aller Mitgliedstaaten der EU hat solche Klauseln, die zwischen 3 % in Griechenland, 4 % in Italien, Österreich, Schweden und Slowenien und 5 % in Deutschland, Frankreich, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn festgelegt worden sind, das lässt die EU–Direktwahlakte von 1976 zu. Die andere Hälfte kommt ohne solche Klauseln aus, was insgesamt dazu führt, dass auch jetzt schon 162 verschiedene Parteien im Europäischen Parlament sitzen. Dass die aktuelle Organisationskraft der großen Fraktionen es noch immer geschafft hat, den parlamentarischen Betrieb lösungsorientiert zu organisieren, kann allein noch kein Argument dafür sein, dass dies – so die Auffassung des Verfassungsgerichtes – auch bei weiterer Diversifizierung durch Splitterparteien gewährleistet sei.

Es geht gegebenenfalls auch um eine neue und grundsätzlichere Reform des Direktwahlrechts der EU, die dann entsprechend in nationales Recht umzusetzen sein würde. Mehr Europa könnte hier bedeuten: einheitliche Klauseln zur Mindeststimmzahl, grenzüberschreitende Wahlkreise, europäische Listen der Parteien, alles Vorschläge, die gerade auch in den Reihen der Europa-Union schon gedacht und formuliert worden sind.

Wer Europa als "best practice" für Demokratie und bürgerschaftliche Beteiligungskultur im globalen Raum platzieren möchte, muss sich diesen Fragen öffnen und sie auch abarbeiten. Herr von Arnim, der gerne auch von seiner "logistischen Basis", der Hochschule für Verwaltungswissenschaften aus agiert, sollte sich über seinen Sieg nicht wirklich freuen, es sei denn er huldigt dem Grundsatz: Piraten und andere an die Macht.

Europa ist nichts für "geistige Kleingärtner" oder eindimensionale Interessenkoalitionen. Europa ist die Aufgabe des Jahrhunderts, an deren guter Erledigung und perspektivischer Erweiterung vor allem die etablierten Parteien sich endlich mit mehr Mut und größerer Kompetenz beteiligen müssen."